Lena will nicht mehr zum Judo

Lena will nicht mehr zum Judo

Kurze Frage: Wenn Sie nachts auf dem Heimweg überfallen werden, was rufen Sie dann?

Wenn Sie „Hilfe“ geantwortet haben, sind Sie ein Mann.

Frauen wissen, dass es besser ist „Feuer!“ statt „Hilfe!“ zu rufen. Ich habe das mit elf Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt.

„Lena will nicht mehr zum Judo, sondern lieber Leichtathletik machen.“

Ich verdrehe die Augen.

„Was ist denn? Was hast du? Sie soll doch selbst entscheiden können, wie sie ihre Freizeit verbringt oder nicht?“

Ich nicke.

„Sie scheint da wirklich ein großes Interesse zu haben. Sie war neulich beim Probetraining und-“

Ich höre schon gar nicht mehr zu. Lena ist meine sechsjährige Stieftochter. Ein großartiges Kind. Lena ist unglaublich kreativ und ein aufgewecktes, intelligentes junges Mädchen. Manchmal ist sie noch etwas schüchtern und zurückhaltend, manchmal ein wenig ängstlich und verunsichert, aber das gibt sich bestimmt noch. Sie wird ihren Weg gehen, da bin ich sicher. Aber: Lena will nicht mehr zum Judo.

Ich schreibe andauernd Texte zum Thema Feminismus, Gleichberechtigung, Ungleichbehandlung von Frauen und marginalisierten Gruppen und auch zum Thema „Gewalt gegen Frauen.“ Mein Google- Suchverlauf liest sich in etwa so: statistik gewalt gegen frauen; femizide opfer 2021; häusliche gewalt; sexuelle übergriffe wahrscheinlichkeit junge frauen; internalisierte misogynie; frauenhass und seine folgen; jeden dritten Tag statistik; Rache-Porno; cybergrooming…

Ich setze mich tagtäglich damit auseinander, dass meine Stieftochter Lena mit einer anderen Zukunftsperspektive konfrontiert ist als ihr Zwillingsbruder Luis. Luis geht übrigens weiterhin zum Judo.

Und nun stehe ich ratlos in der Küche. Ich, die Feministin. Ich, die felsenfest davon überzeugt ist, dass jedes Kind – jedes Mädchen – selbst entscheiden kann und soll, wie es seine Freizeit gestaltet. Ich muss mir eingestehen, dass ich Lena lieber zum Judo schicken würde. 

Ich weiß, was Lena bevorsteht und ich möchte sie gewappnet sehen. Ich wünsche mir, dass sie sich behaupten kann, dass sie laut und deutlich ihre Grenzen aufzeigen kann. Ich will, dass sie lernt „Nein“ zu sagen und dass sie sich nicht scheut sich zur Wehr zu setzen. Deshalb will ich, dass sie zum Judo geht. Aber ist das fair?

Wie kann es sein, dass mein Fokus ausschließlich darauf liegt Mädchen und jungen Frauen Verteidigungsstrategien beibringen zu wollen? Als sei das bestehende Problem unveränderlich – gesellschaftlich zu tief verankert, als dass sich je eine Lösung dafür finden ließe. Als bliebe uns nichts anderes als die Symptome zu behandeln. Aber ist dem so?

Mütter, Väter, Erziehungsberechtigte, bringt euren Kindern nicht nur das „Nein-Sagen“, sondern vor allem das „Nein-Akzeptieren“ bei – das Prinzip “Einvernehmlichkeit” und “Konsens”.  Jedes Kind muss lernen Nein zu sagen, sich selbst zu behaupten und den eigenen Willen auszudrücken. Aber erweitern wir diese Lektion und denken über die Opferperspektive hinaus: Mit Aggressionen und Frustration durch Zurückweisung umgehen ohne anderen Menschen weh zu tun.

Kinder müssen lernen “Neins” zu akzeptieren, damit sie zu Erwachsenen heranwachsen, die die Grenzen ihres Gegenübers achten.

Lena will machen, worauf sie Lust hat. Lena hat eine klare Grenze formuliert und es ist ihr verdammtes Recht ihre Nachmittage so zu verbringen, wie sie es will.

Meine Pflicht ist es nicht sie umzustimmen, sondern an einer sicheren Welt für sie und alle anderen Kinder zu arbeiten, denn Lena will nicht mehr zum Judo.

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Elena Kristin Boecken

Elena Boecken ist Schauspielerin und Regisseurin aus Köln. Sie ist Ensemblemitglied bei "Das Theaterbüro" und engagiert sich außerdem im Netzwerk Dialog und Demokratie für eine offene und konstruktive Gesprächskultur. Außerdem schreibt sie Theaterstücke und Beiträge für feministische Performances.

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