Zeit für Erkenntnis

Zeit für Erkenntnis

Gerechtigkeit ist ein starkes Wort.

/Geréchtigkeit/ Substantiv, feminin [die]
“das Gerechtsein; Prinzip eines staatlichen oder gesellschaftlichen Verhaltens, das jedem gleichermaßen sein Recht gewährt” 

Jedem? Sein? Also ein Prinzip, das der Hälfte unserer Gesellschaft Recht gewährt?
Ja ja, schon klar. Natürlich ist mir bewusst, dass ich als Frau mitgemeint bin. Aber ich will als Frau nicht nur mitgemeint sein. Ich will als Frau genauso gemeint sein wie alle anderen auch.
Richtig- nicht wie jeder andere auch, nicht nur wie jede andere auch, sondern wie alle anderen auch. Denn wir sind weitaus mehr als nur Mann und Frau und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Konstrukte, die es längst aufzubrechen gilt. 

Ich übertreibe? Ich soll mich nicht so anstellen? Ich bin empfindlich?
Hey du, ich kann deine Reaktion vollkommen nachvollziehen…

Ich bin auch eine von denen, die so fucking privilegiert aufgewachsen ist, dass mir schon immer klar war, dass auch ich als Frau ganz selbstverständlich ein Arzt, ein Richter oder ein Lehrer hätte sein können.

Ich bin so privilegiert, dass mein Geschlecht ganz klar benannt und als normal anerkannt wird.

Ich bin so privilegiert, dass ich -wenn ich nur auf meine Weltkonstruktion schaue- sagen darf, dass ich wirklich schon unfassbar viel Gerechtigkeit und Gleichberechtigung erfahren durfte.

Ich bin so unfassbar privilegiert, dass ich hier sitze und wahrscheinlich nicht mal mehr alle meine Privilegien aufzählen könnte. 

Und ehrlich gesagt, ich bin verdammt nochmal gierig geworden.
Gierig nach dieser vermeintlichen Gerechtigkeit.
Jede noch so kleine Ungerechtigkeit, die mir widerfährt, fuckt mich ab. Ja, wenn ich mal nicht auf meine Privilegien zurückgreifen kann, stürzt meine kleine behütete und gerecht Welt zusammen…
Ich rege mich über Dinge auf, die traue ich mich nicht mal mehr auszusprechen, weil ein rießen Teil unsere Gesellschaft behaupten würde: “Die Probleme hätte ich gern!”
Tja was soll ich sagen? Ihr habt schon recht… 

Warum ich jetzt meine, die Welt verbessern zu müssen? Ob ich nicht einfach mal zufrieden sein kann? Ich soll einfach mal gut sein lassen?

Hey du, ich kann deine Reaktion vollkommen nachvollziehen, aber ich hatte da ein paar Erkenntnisse, die mich umgestimmt haben und die dir vielleicht helfen meine Reaktion nachzuvollziehen…

Erste Erkenntnis:
Ich muss aufhören, mich, mein Leben, meine Privilegien und meine Ansichten an erste Stelle zu setzen. Ich kann mich noch so “mitgemeint fühlen”, wenn sich nur eine einzige Person nicht mitgemeint fühlt, ist dies absolut Grund genug, um zu gendern. 

Zweite Erkenntnis:
“Gerecht sein” ist kein Zustand, sondern eine dauerhafte Aufgabe, die es verantwortungsbewusst anzunehmen gilt.
Und diese Aufgabe kann nicht allein erledigt werden, denn dies ist eine gemeinsame Aufgabe- eine Gruppenarbeit. Eine Aufgabe, die wir nur durch gegenseitiges Zuhören, Akzeptieren, Wahrnehmen, Kommunizieren, Verstehen, Verstehen wollen, Respektieren und Wertschätzen bewältigen können.

Deswegen heißt es bei dieser Aufgabe: Verbündet euch!

Dritte Erkenntnis:
Ich bin nicht schuldig aufgrund meiner Privilegien. Ich werde schuldig, wenn ich diese Sonder- bzw Vorrechte einfach so hinnehme, genieße und nicht weiter hinterfrage.
Meine Aufgabe ist es, Privilegien zu erkennen und anschließend abzuschaffen, indem ich mich dafür einsetze, dass sie für alle zugänglich gemacht werden. 

Vierte Erkenntnis:
Ich werde Fehler machen und das ist ok.

Und damit möchte ich mich bei Elena Boecken bedanken, die mir den Mut gab, mich selbst als Feministin zu bezeichnen indem sie sagte: “Wir brauchen nicht ein paar perfekte Feministinnen. Wir brauchen viele unperfekte Feministinnen.”

Also:
Wenn du auch nur bei einem einzigen Satz von mir gedacht hast: “Da ist was Wahres dran!”, dann freue ich mich darauf, mich mit dir auszutauschen und zu verbünden.
Und wenn du mir erst gar nicht zugehört hast, kann ich deine Reaktion vollkommen nachvollziehen und gebe dir Zeit für deine Erkenntnis.

Erkenntnis ist ein beruhigendes Wort.

/ɛɐ̯ˈkɛntnɪs,Erkénntnis/ Substantiv, feminin [die]
“Einsicht, die durch die Verarbeitung von Eindrücken und Erfahrungen gewonnen wird”

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Aylin Duman

Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeiten liegt in der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Sie hat in verschiedenen pädagogischen Einrichtungen unterschiedlichste künstlerische Projekte mit Kindern und Jugendlichen umgesetzt. Seit 2016 wirkt sie in dem von ihr gegründetem Ensemble „Das Theaterbüro“ als Schauspielerin, Regisseurin und Projektleiterin.

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